Aha-Erlebnis nach 40 Jahren

In meiner Jugend gab es keine PCs, die modernste „Rechenmaschine“ war ein Taschenrechner mit LED-Anzeige der die 4 Grundrechenarten beherrschte. Und es gab auch kein Internet und schon gar keine Suchmaschinen. Die Deutungshoheit über das Allgemeinwissen oblag den gedruckten Lexika und wir hatten damals eine Ausgabe von „Knaurs Jugendlexikon“ welches uns bei der Klärung von wichtigen Fragen dann half. Das Buch hatte zwar viele Seiten, aber natürlich ist der Platz begrenzt und so konnte man keine so abgehobenen Sachen wie das Funktionsprinzip einer Wasserstoffbombe nachschlagen, nein, dieses Lexikon beschränkte sich mehr auf die praktischen Fragen des Alltags wie zum Beispiel das Abspülen. Denn in meiner Jugend kannten wir Spülmaschinen nur vom Hörensagen, das war etwas teures für das in der kleinen Küche sowieso kein Platz war und daher wurde der Abwasch von Hand erledigt. Und dieses herausragende Werk beschrieb den Abspülvorgang sehr exakt. Ich kann mich noch gut erinnern, da stand zum Beispiel, dass derjenige der abtrocknet schlecht gewaschenes Geschirr wieder an den Abspüler zurückgeben darf und der Abspüler darüber nicht meckern darf. Damals habe ich nicht verstanden, warum man eine solche, eigentlich selbstverständliche Regelung in ein Lexikon drucken muss. Heute jedoch traf mich mit einem Schlag die Erkenntnis wozu das damals so genau definiert wurde.

Was war passiert? Momentan haben die Kinder ja Ferien, und da werden sie natürlich auch in die häuslichen Arbeiten eingebunden die zu tun sind, damit wir als Familie eine gewisse Ordnung und Lebensqualität haben. Zu diesen Tätigkeiten gehört auch, hin und wieder die Holztreppe zwischen den Stockwerken im Haus zu kehren, dank unseres Hundes sammelt sich da nämlich öfter mal ein Staubteufelchen und ein paar Haare. Also ist eben regelmäßiges Kehren angesagt. Und diese verantwortungsvolle Aufgabe wurde von meiner lieben Frau gestern dem im Ferienmodus befindlichen pubertierenden Fabelwesen aufgetragen das bei uns lebt. Und wie Fabelwesen eben so sind ging diese Arbeit sehr flott von der Hand, Harry Potter hätte es mit einem zackigen „Evanesco“ (lat. verschwinden – der Aufräumzauber) nicht schneller hinbekommen.

Dummerweise erschien direkt nach getaner Arbeit die Auftraggeberin am Ort des Geschehens und musste feststellen, dass die mechanische Arbeit des Kehrens anscheinend „suboptimal“ verrichtet wurde, denn ein nochmaliges Verrichten der Tätigkeit durch eben die Auftraggeberin brachte eine Kehrschaufel voll mit Staub und Hundehaaren zum Vorschein. Das auftragnehmende pubertierende Fabelwesen konnte sich dieses spontane geballte Auftreten von Haushaltsstaub nicht erklären, denn sie hätte ja gewissenhaft gearbeitet und wenn da jetzt wieder Staub ist, dann muss der wohl aus einem Paralleluniversum auf unsere Treppe „ge-beam-t „worden sein.

Die Auftraggeberin beließ es erst mal dabei um dem Fabelwesen Gelegenheit zur Selbstreflexion und eingehender wissenschaftlicher Analyse der Theorien des spontanen Staubauftretens zu geben. Als die Auftragnehmerin heute aber von der Auftraggeberin angesprochen wurde um den Fortschritt des wissenschaftlichen Wahrheitsfindungsprozesses zu erfahren eskalierte die Angelegenheit. Es wurde mit Superlativen wie „ich habe mein Bestes gegeben“ argumentiert, gepaart mit dem Hinweis, dass die Auftraggeberin das doch zukünftig selbst machen soll wenn sie meint sie könne es besser. Außerdem wäre das eh ein „unfaires Gezicke“ weil ja eine gute Arbeit abgeliefert wurde die dann spontan durch unerklärliches Auftreten von Staubpartikeln sabotiert wurde. Aber deartige hinterhältige Sabotageakte fallen natürlich nicht in den Aufgabenbereich der Auftragnehmerin.

Tja, und da ich Ohrenzeuge dieser Eskalation werden durfte fiel mir ganz spontan wieder der Artikel über das Abspülen in meinem Jugendlexikon ein und jetzt verstand ich plötzlich den geradezu phänomenalen Weitblick der damaligen Lexikon-Redaktion. Sie hat nicht nur den technischen Prozess beschrieben sondern auch den Bewertungsmaßstab und die Regel, dass das Ansprechen von Mängeln bei der Ausführung der Tätigkeit nicht als Angriff sondern als konstruktive Kritik zu sehen ist und daher der Ausführende statt zu meckern einfach die Gelegenheit bekommt es besser zu machen.

Leider ist dieses Lexikon bei irgendeinem Umzug verloren gegangen und daher kann ich nur aus meiner Erinnerung (die hier aber sehr gut funktioniert) berichten. Und ich habe heute gelernt, dass solche Dinge die einem früher durchaus als „selbstverständlich“ vorkamen trotzdem einer expliziten Definition bedürfen, denn offensichtlich findet in der Phase der Pubertät eine massive Reorganisation des Gehirns (siehe dazu auch das Buch von Alexandra Lux welches ich neulich hier besprochen habe) statt welche das rationale Denkvermögen temporär blockiert.

Natürlich sind die Familienmitglieder welche die Pubertät schon hinter sich haben ein wenig „angefressen“ ob der zu Schau gestellten Respektlosigkeit durch das pubertierende Fabelwesen. Und natürlich stellt eine halbstündige Diskussion über eine Arbeit, die man in 5 Minuten gewissenhaft und ordentlich ausführen könnte nicht nur eine Ressourcenverschwendung dar, sondern auch eine massive nervliche Belastung bei denen die rational denken können und wollen. Und mit einiger Verzweiflung fragt man sich dann, wann die Pubertät wohl vorüber ist…

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