Heute ist ein denkwürdiger Tag. Ich habe seit langem mal wieder eine Printausgabe des ehemaligen Nachrichtenmagazins gekauft. Grund für die Kaufentscheidung war der vielversprechende Titel „Netz ohne Gesetz“ mit dem Untertitel „Warum das Internet neue Regeln braucht“.
Und zeitsynchron erscheint heute ein Interview mit Kanzleramtschef Thomas de Maizière (CDU) in der Rheinischen Post in der er schärfere Regeln fürs Internet fordert.
Auf die Frage, ob Befürchtungen über die Einführung der Zensur durch die Kinderporno-Sperron berechtigt sind antwortet er:
Ein unberechtigter Vorwurf. Hier steht doch vielmehr die grundsätzliche Frage: Kann das Internet völlig frei sein? Müssen wir nicht die Menschen vor Denunziation, Entwürdigung oder unseriösen Geschäften schützen wie im Zivilrecht? Ähnlich wie auf den Finanzmärkten brauchen wir mittelfristig Verkehrsregeln im Internet. Sonst werden wir dort Scheußlichkeiten erleben, die jede Vorstellungskraft sprengen. Vieles geht da übrigens nicht nur national.
Wenn der Herr Kanzleramtschef tatsächlich Menschen vor Entwürdigung schützen will, dann möge er bitte gleich mal anfangen vor seiner eigenen Tür zu kehren. Schauen wir uns doch nur mal an, wie wir mit Langzeitarbeitslosen umgehen. Berichte wie der zur Armuztsindustrie oder über die Sanktionsquote gegen Hartz-IV-Empfänger sind für mein Empfinden auch Scheußlichkeiten, die jede Vorstellungskraft sprengen. Vor allem wenn sie in einem angeblich zivilisierten demokratischen Rechtsstaat passieren.
Und was ist mit der medialen Hexenjagd gegen Jörg Tauss? Das ehemalige Nachrichtenmagazin wartet auch heute wieder mit Insider-Infos auf, Dinge die eigentlich in vertraulichen Akten stehen sollten und über die in einem schwebenden Verfahren keiner berichten sollte. Trotzdem steht es in bester Bildzeitungs-Manier in den Nachrichtenmagazinen, dabei ist laut letzten Berichten die Staatsanwaltschaft gar nicht mehr sicher, ob sie wirklich Anklage gegen Jörg Tauss erheben wird.
Besonders erheiternd ist aber der Verweis des Herrn vom Kanzleramt auf die Regeln für Finanzmärkte. Wo bitteschön ist da was geregelt? Außer daß am Ende der Steuerzahler für die Spielschulden der Bankster aufkommt.
Kommen wir zurück zum Spiegel-Artikel. Der ist recht umfangreich und nach Einschätzung meiner Frau eher geeignet alte Omas zu erschrecken. Erschreckend ist aber, wie hier mit suggestiven Formulierungen Leute diffamiert werden. Beispiel:
Mit seinen Filterprogrammen durchforstet der Fahnder des LKA die Tauschbörsen nach Kinderpornographie. „Wir machen jetzt mal eine Stichprobe“, sagt er. Er gibt eine kurze Kombinatiion aus Buchtstben und Ziffern ein, darunter eine 3. „Enter“. Schon erscheine auf seinem Monitor 329 Aktuelle Angebote über Sexszenen mit Dreijährigen. […]
Sie sind ganz schön weit, die Kämpfer um die staatliche Hoheit im Cyberspace. Die an der anderen Front aber auch. Die Flagge mit dem schwarzen Segel auf weißem Grund weht schon in unmittelbarer Nähe des Berliner Regierungszentrums: Die Piratenpartei hat Ende Juni ihr Wahlkampfbüro für die Bundestagswahl eröffnet.
Jetzt weiß der geneigte Spiegel-Leser natürlich sofort, wo er die Piratenpartei einzuordnen hat, also auf der anderen Seite von den Cyberpolizisten die gegen die Kinderpornographie kämpfen.
Natürlich wird auch auf die arme Contentindustrie eingegangen und als leuchtendes Vorbild das Three-Strikes-Gesetz aus Frankreich zitiert, wohlweislich ohne die verfassungsrechtlichen Verwicklungen bei seiner Geburt. Dann kommt wieder so ein Absatz der einem das Herz höher schlagen lässt:
Die Deutschen setzen lieber auf den nicht weniger problematischen Weg, der geschädigten Musik- und Filmindustrie weitreichende Selbsthilfebefugnisse einzuräumen. So dürfen die Firmen zur Verfolgung von Schadenersatzansprüchen seit kurzem bei den Providern mit richterlicher Erlaubnis die Daten Verdächtiger verlangen, die zuvor von Netzpatroullien bei ihrm Tun beobachtet worden sind. Um einzelne Delikte zu beweisen, können die privaten Copyright-Cops neuerdings sogar, mit Hilfe der Polizei, in die Wohnung mutmaßlicher Verletzer eindringen und deren Computer durchsuchen.
An dieser Stelle frage ich mich dann schon, ob ich was verpennt habe. Die grungesetzlich garantierte Unverletzlichkeit der Wohnung aufgehoben und private Schnüffler mit der Lizenz zum PC-Durchsuchen? Man möge mir bitte das entsprechende Gesetz zeigen und ich werde postwendend dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht klagen.In meinen Augen ist das was hier geschrieben wurde eine glatte Lüge mit dem Zweck, so zu tun als wäre das jetzt schon rechtlich zulässig und sozusagen die Normalität.
Fazit: Meine 3,70 € für den Spiegel waren herausgeschmissenes Geld, aber zumindest konnte ich so die Propagandamaschine in Action bewundern. Und was den Titel „Netz ohne Gesetz“ angeht, da hat ein Forenposter ein wunderschönes Skript der Universität Münster als Link angegeben. Eine PDF mit 500 Seiten zum Thema Internetrecht. Das sollte sich jeder mal zu Gemüte führen, der meint das Internet wäre ein „rechtsfreier Raum“.
Aber wie schon der Kanzleramtschef in seinem Interview gesagt hat: „Wir leisten uns keine Auszeit.“ Auch an anderen Fronten ist man massiv bemüht noch ein paar Änderungen am Grundgesetz durchzupeitschen. Diesmal müssen die Piraten vor Somalia dafür herhalten, denn die Bundesmarine kann ohne GG-Änderung zu wenig tun. Und im gleichen Aufwasch soll auch gleich der Bundeswehreinsatz im Inneren ermöglicht werden, im Blick auf „bestimmte Situationen“. Dummerweise ist sogar die Polizeigewerkschaft gegen diese Rumfummelei am Grundgesetz.
Trotzdem gibt es auch noch gute Nachrichten: Die OSZE wird zur Bundestagswahl am 27. September Wahlbeobachter nach Deutschland entsenden.