Aufgewühlt!

Ja, ich bin gerade in einer Art Ausnahmezustand. Grund dafür ist ein Buch welches mir meine Frau zum Geburtstag geschenkt hat: „Deutschland dritter Klasse. Leben in der Unterschicht

Dieses Buch habe ich in den letzten Wochen als Abendlektüre gelesen und auch wenn ich danach wirre Träume hatte, so kann ich es trotzdem nur jedem empfehlen. Eine besondere Empfehlung geht hier an die bayerische Sozialministerin Christine Haderthauer die unlängst wieder mal das übliche Hartz-IV-Mantra in Bezug auf Langzeitarbeitslose abgesondert hat:

Von den Betroffenen müsse eine stärkere Gegenleistung eingefordert werden, sich anzustrengen, wieder in Arbeit zu kommen. «Durch die hohe soziale Absicherung bei uns ist offensichtlich zu wenig Leidensdruck vorhanden», sagte die CSU-Politikerin dem Blatt. «Es gibt Familien, in denen die schulpflichtigen Kinder die einzigen sind, die morgens noch aufstehen.»

Wenn ich sowas lese, ganz besonders mit dem Hintergrund das oben erwähnte Buch gelesen zu haben, dann geht mir virtuell der Hut hoch. Wie weltfremd und überheblich muss man eigentlich sein um anzunehmen, dass man die 7 Millionen Langzeitarbeitslose nur genügend unter Druck setzten muss um das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen?

Solche Worte aus dem Mund einer Sozialministerin lassen mich vermuten, dass man hier den Bock zum Gärtner gemacht hat. Vielleicht sollte sie mal das Buch lesen, denn es schildert die Lebenswirklichkeit der Menschen die vom System ausgesondert wurden und die auch bei unermüdlicher Anstrengung keinerlei reelle Chance haben aus dem Loch das unser Staat für sie geschaufelt hat wieder rauszukommen. Da hilft es auch nichts wenn man seine Arbeitskraft im Niedriglohnsektor veräußert oder sich als Leiharbeiter in der Hoffnung vermitteln lässt, so eine Daueranstellung zu bekommen.

Besonders betroffen machte mich beim Lesen des Buches der Abschnitt über die Schicksale der Kinder aus Familien die von Hartz IV leben. Im Grundgesetz Artikel 3 heißt es:

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Sieht man die Situation von Kindern aus Hartz-IV-Familien, dann muss man vermuten, dass dieser Artikel für diese Kinder nicht gilt. So liest man von der Fröbelschule in Wattenscheid in der die Kinder und Jugendlichen auf das vorbereitet werden, was sie nach Ende Schulzeit erwartet: Der tägliche Besuch beim Amt und das Leben mit Hartz IV. Die Schule hat längst die Hoffnung aufgegeben, dass ihre Schüler nach Ende der Schulzeit eine Lehrstelle erhalten. Da will man auch schon keine falschen Hoffnungen mehr wecken und serviert ihnen die knallharte Lebenswirklichkeit, die für sie einfach „keine Chance auf ein normales Leben“ bedeutet. Besonders betroffen macht mich sowas, wenn ich dann lesen, dass bereits Kinder in der 4. Klasse auf dieses Abstellgleis (oder sollte man sagen, Abwrackgleis) der Gesellschaft geschoben werden. Ich konnte diese Woche meine Tochter am Gymnasium anmelden und bin überzeugt, dass jedes Kind, wenn es auf die Welt kommt die gleichen Grundvoraussetzungen mitbringt. Wenn Kinder dann in den ersten Lebensjahren auf der Strecke bleiben ist es doch nicht die Schuld der Kinder sondern ihres Umfeldes das entweder nichts für sie tut (im Falle der Eltern) oder dem es total egal ist solange es nicht die eigenen Kinder betrifft.

Diesen Kindern wird eines der schlimmsten Verbrechen angetan die man sich vorstellen kann, man raut ihnen die Zukunft. Und dann kommt so eine angeblich „christliche“ Sozialministerin und fordert noch mehr Sanktionen an den Opfern des Kapitalismus anstatt sich einzugestehen, dass die Ziele der Hartz-Reformen allesamt weit verfehlt wurden und lediglich dazu beigetragen haben, dass wir weiterhin vom Export leben können und eben auch davon, dass sich andere Länder wegen uns verschulden.

Aber klar, in der CSU sind ja vermögende Adlige die ihren Doktortitel erschleichen viel wichtigere Leistungsträger als die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern die sich jeden Monat aufs neue Sorgen machen muss was aus ihren Kindern mal wird.

Und als Bestandteil der „Mittelschicht“ (also denen, die noch eine Festanstellung haben) sieht man ganz deutlich, dass hier der Grundgesetz verankerte Sozialstaat in ganz heftige Turbulenzen gekommen ist und der Absturz vorprogrammiert ist, wenn man nicht schleunigst etwas tut. Nur, das tun würde ich von der politischen „Elite“ erwarten die hier eher das Gegenteil tut. Und so wächst in mir der Zorn über ein System in dem ich als einzelner zwar schon mal einem Bettler Geld zustecken kann oder jemanden aus meinem Bekanntenkreis der in Not ist helfen kann, aber eben das System an sich nicht ändern kann. Kein Wunder dass man dann schlecht schläft.