Fundamentalisten und zertifizierte Wissenschaft?

Dieses Thema gärt schon eine Weile in meiner Mailbox vor sich hin, leider bin ich jahreszeitbedingt gut mit anderen Arbeiten ausgelastet, darum hat es nun ein wenig gedauert. Es geht um die ABA-Therapie für Autisten, auf die ich ja vor ein paar Wochen schon hingewiesen habe. Damals hat Autismus Mittelfranken klar Stellung gegen ABA bezogen und das mit sehr nachvollziehbaren Gründen. Natürlich war diese Stellungnahme ein rotes Tuch für die ABA-Befürworter.

Und so gab es dann die Stellungnahme gegen die Kritik. Auf dem Blog welches diese Stellungnahme veröffentlicht hat gibt es dann auch gleich eine passende Antwort, verfasst von der Mutter eines Autisten. Auch die Autistin Sam Becker geht auf diese Stellungnahme ein und zerpflückt diese. Heute hat dann auch der Autist und Querdenker Aleksander einen bitterbösen Blogartikel verfasst in dem er sich über die Diffamierung der ABA-Gegner beklagt und auch darüber, dass der wissenschaftliche Beirat von Autismus Deutschland die Kritik an ABA als „fundamentalistisch“ zurückweist.

Und jetzt haben wir wieder zwei Seiten die sehr gegensätzliche Ansichten zu ABA haben. Die Befürworter werfen dabei ihren Gegnern Unwissenheit, Fundamentalismus und Furcht vor Neuem vor. Und man reklamiert für die Zustimmung wissenschaftliche Arbeit auf einem Niveau das zu verstehen man den Gegnern abspricht.

Allein das ist für mich schon sehr interessant. Der grundlegende Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion oder Ideologie ist ja, dass Wissenschaft erst durch ihre Reproduzierbarkeit zur Wissenschaft wird. Hätten alle Menschen auf dem Planeten eine totale Amnesie und müssten alles neu lernen und erfinden, dann kämen am Ende die gleichen wissenschaftlichen Erkenntnisse heraus, eben weil sie reproduzierbar sind. Religionen und Weltbilder würden aber wahrscheinlich total anders aussehen, da sie „ausgedacht“  wurden und nicht wissenschaftlich erarbeitet.

Der Hinweis auf eine fehlende wissenschaftliche Befähigung etwas zu verstehen sieht für mich daher tatsächlich eher so aus wie die Schutzbehauptung der Hohenpriester einer Religion, die mächtig Angst davor hat, dass der Otto-Normalo zuviele Fragen darüber stellt.

Und die Ablehnung von ABA erfolgte ja nicht aus der Frucht vor Neuem, sondern weil die Praktiken die hier abgelehnt werden eben nicht mit einem elementaren Verständnis von Menschenrechten und Menschenwürde kompatibel sind. Ein Vorwurf dem von Seiten der ABA-Befürworter nichts entgegen gesetzt wird, man greift die Gegner als „Fehlinformierte“ an (also auf persönlicher Ebene) statt auf sachlicher Ebene die Frage nach der Menschenwürde bei der Therapie zu diskutieren.

In gewisser Weise erinnert mich dieses Vorgehen erschreckend an die ersten Kapitel des Buches „Schock-Strategie“ von Naomi Klein. Dort beschreibt die Autorin wie in den 50er Jahren an psychisch Kranken versucht wurde, deren Gehirn „neu zu programmieren“. Als erster Schritt wurde dabei der bisherige Inhalt „gelöscht“, den Opfern dieser Experimente wurde also ihre Persönlichkeit genommen. Der zweite notwendige Schritt, die „Neu-Programmierung“ ging allerdings mächtig schief und zurück blieben menschliche Wracks. Das ganze geschah auch unter dem Deckmantel der „Wissenschaft“, trotzdem wäre es sehr merkwürdig, wenn man Kritiker an dieser Vorgehensweise als „fehlinformiert“ bezeichnen würde.

Ich antworte auf dieses „Du hast ja keine Ahnung von XYZ“ gerne so:

„Ich habe auch keine Ahnung vom Eierlegen, denn ich bin kein Huhn. Trotzdem erkenne ich ein faules Ei wenn ich eines sehe.“

Und Aleksander weist in seinem Blogbeitrag noch auf ein sehr interessantes Detail in Zusammenhang mit dem Statement von Autismus Deutschland hin:

Dort veröffentlichte man eine interne Einschätzung des wissenschaftlichen Beirates von Autismus Deutschland zu ABA und verknüpfte diese, wen wundert es, gleich mit der Werbung für die eigene ABA Ausbildung zum zertifizierten Verhaltenstechniker.

Beim Thema „Zertifizierung“ laufen bei mir ein paar pawlowsche Reflexe ab, denn üblicherweise sagen diese diversen „Zertifikate“ nur eines aus: Bei dem Thema ist gut Geld zu verdienen. Nehmen wir beispielsweise mal die ISO900x-Zertifizierung an, mit der sich viele Firmen als besonders „gut“ und „qualitätsbewußt“ darstellen wollen. Dieses Zertifikat sagt in erster Näherung eigentlich nur aus, dass ich für alles was ich in der Firma tue einen dokumentierten Prozess habe und nach diesem vorgehe. Ich könnte also der größte Quacksalber aller Zeiten sein und das Geschäftsmodell „Elefantenverscheuchen durch Schwenken eines Amuletts aus einer Zitrone“ trotzdem nach ISO900x zertifizieren solange ich die Vorgehensweise sauber dokumentiere.

Der „Kunde“ hingegen sieht „zertifiziert“ und dank jeder Menge Marketing und Public Relations für diese Zertifizierung ist beim einfachen Konsumenten dann im Kopf damit „gute Qualität“ verknüpft, obwohl das nicht zwingend korrelieren muss. Tragisch wird es dann, wenn Zertifizierung sozusagen „erzwungen“ wird. So musste damals die Kindertagesstätte in der meine Kinder waren „zertifiziert“ werden um weiterhin Fördergelder zu bekommen. Und ein Bekannter der eine Orthopädie-Werkstatt hat muss auch „zertifiziert“ sein um mit den Krankenkassen abrechnen zu können. Zertifizierung wird als nicht mehr zum „nice to have“ sondern zum „must have“.

Und natürlich werden die Krankenkassen bei „zertifizierter ABA-Therapie“ auch wieder in die Falle tappen und das befürworten und bezuschussen, denn ist es ja zertifiziert. Wobei hier „zertifiziert“ eben bedeutet, dass der so Geweihte neue Hohepriester dieser Therapie erst mal viel Geld für diese Zertifizierung hinlegt und später viel Geld haben will, weil er eben einen passenden Return-of-Investment haben will. Besonders kluge Köpfe befristen dann die Gültigkeit von Zertifikaten auf eine bestimmte Zeitdauer um so einen kontinuierlichen Cash-Flow zu sichern.

Ich stelle mir aber mal ganz salopp die Frage, wenn ABA wissenschaftliches Arbeiten ist, warum muss es dann zertifiziert werden? Hat schon mal einer einen „zertifizierten Physiker“ gesehen? Wenn es Wissenschaft wäre, dann wäre es eben reproduzierbar und für jeden, der wissenschaftliches Vorgehen inne hat auch nachvollziehbar. So ganz ohne Zertifikat.

Für mich drängt sich hier förmlich der Gedanke auf, dass man mit ABA eine neue Cash-Cow gefunden hat die kontinuierlich Einnahmen generieren kann, wenn man es denn zulässt. Das würde auch erklären, warum die ABA-Befürworter lieber ihre Gegner als „fehlinformiert“ diffamieren anstatt auf deren Argumente einzugehen oder gar wichtige Informationen zu liefern.

Letztlich bleibt einfach die Erkenntnis, dass die Therapie nicht die Bearbeitung eines Werkstückes ist sondern dass man hier mit einem Menschen arbeitet. Und daher in erster Linie auch die Würde und Integrität dieses Menschen unantastbar ist. Und man sich daher eben nicht über den Willen des „Patienten“ hinwegsetzen kann nur um ihn nach den eigenen Vorstellungen „normgerecht“ zu formen. Solange dieses Argument von den ABA-Befürwortern nicht entrkäftet werden kann ist jede weitere Diskussion sinnlos, ihr wisst schon wegen dem Hund und dem Ei.

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3 Gedanken zu „Fundamentalisten und zertifizierte Wissenschaft?

  1. Ausgezeichneter Text, danke. Genau der gleiche Eindruck drängt sich mit auch auf. Bei einem Therapieumfang zwischen 20-40 Stunden pro Woche normalerweise (nach unbestätigten Gerüchten wird in anderen europäischen Ländern sogar bis zu 80 Stunden/Woche therapiert… kann ich mir aber kaum vorstellen, das klingt total irre) hat ABA das Potenzial jede Menge Therapeuten auf Dauer mit einem gesicherten Einkommen zu versorgen.

  2. Pingback: Markierungen 05/03/2015 - Snippets

  3. http://autland.achernar.uberspace.de/material/Stellungnahme_ABA_Wiss.BeiratAutismusDeutschland.pdf

    wie man dieser Stellungnahme auch entnehmen kann, behauptet der wissenschaftliche Beirat von Autismus Deutschland, dass die Stellungnahme von Autismus Mittelfranken ein

    Zitat: „Die darin enthaltene Darstellung von Autismus sowie der „ABA“ Therapie
    entsprechen nicht den vom wissenschaftlichen Beirat vertretenen, auf den gegenwärtigen
    Stand des Wissens abgestimmten Diagnostik- und Therapieansätzen und sind damit für
    Betroffene und ihre Angehörigen wenig hilfreich und sogar irreführend. “

    ein falsches Bild von Autismus zeichnet.

    Was impliziert, dass diejenigen bei autismus Mittelfranken, die gemeinsam diese Stellungnahme erstellt haben, keine Ahnung von Autismus hätten.

    Autisten, die daran mitgearbeitet haben, und Fachleuten zu unterstellen, sie hätten keine Ahnung von Autismus…………….. ist keine Kritik mehr!

    Dies ist Unsachlichkeit, die den ABA-Gegnern immer wieder unterstellt wird.

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