Nach dem Amtsantritt von Friedrich Merz im Bundeskanzleramt gibt es eine neue Debatte im Land. Endlich scheint man eingesehen zu haben, dass das ständige Bespielen von AfD-Positionen nur die gesichert rechtsextreme Partei stärkt, daher halten wir jetzt lieber mal den Ball flach und machen zwar weiterhin illegale Grenzkontrollen im Schengen-Raum und werden wohl auch am Mittwoch die Begrenzung des Familiennachzugs für Geflüchtete beschließen, aber das Volk braucht eine neue Debatte. Also schießt die Union aus allen Rohren auf die sogenannte Work-Life-Balance und den 8-Stunden-Tag. Sowohl Friedrich Merz als auch Generalsekretär Carsten Linnemann in die Diskussion gewagt und haben die Bürgerinnen und Bürger dazu aufgefordert, mehr Einsatz zur Erhaltung des Wohlstands zu zeigen.1 Zeit, mal auf diese Shit-Debatte zu zerpflücken.
Wohlstand? Ja, welcher denn?
Das erste was sich Bürgerinnen und Bürger fragen werden, ist von welchem Wohlstand den es zu erhalten gilt denn da geredet wird? Natürlich sind wir eine der reichsten Volkswirtschaften des Planeten und es geht und nicht total schlecht, trotzdem ist es wohl eher so, dass von diesem angeblichen Wohlstand die wenigsten tatsächlich einen Teil abbekommen. Gerade diejenigen, die ja angeblich zu wenig arbeiten haben oft genug eine Lebenssituation in der am Ende vom Geld noch recht viel Monat übrig ist. Was unter anderem dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass im städtischen Raum die Mieten kaum noch bezahlbar sind was dann zur Abwanderung der arbeitenden Bevölkerung aufs Umland führt. Dort wird dann auch nicht auf die Work-Life-Balance geschaut, sondern man versucht möglichst einen Wohnraum zu finden, der auf der einen Seite so wenig Miete kostet und auf der anderen Seite aber auch so günstig liegt, dass die günstigere Miete nicht durch die dadurch erforderlichen Kosten für den Weg zur Arbeit aufgefressen werden. Oft existiert nicht mal ein ordentlicher öffentlicher Nahverkehr um zur Arbeit zu kommen, was dann ein eigenes Auto zum Zwang macht. Und die Zeit die man auf dem Weg zur Arbeit verbringt ist natürlich „Privatvergnügen“ von dem faulen Pack das nicht genügend Leistung zum Erhalt des Wohlstand zeigen will.
Arbeiten wir wirklich zu wenig?
Im Jahr 2024 machten die Arbeitnehmenden in Deutschland rund 552 Millionen bezahlte und ca. 638 Millionen unbezahlte Überstunden.2 Bei einem durchschnittlichen Stundenlohn von 24,84 Euro im Jahr 2024 machen 638 Millionen unbezahlte Überstunden also ein Geschenk in Höhe von 15,84 Milliarden Euro an die Arbeitnehmerseite aus.
Die Debatte hat zudem eine weitere groteske Facette, denn Carsten Linnemann antwortete in einer Talkshow auf die Frage, wer denn zu wenig arbeite mit „Na, zum Beispiel die Rentner“.3 Nun, ich gehöre zu den Menschen die in absehbarer Zeit auch in Rente gehen dürfen und ich habe eigentlich nicht vor zu arbeiten. Um die Jahrtausendwende hat uns damals Bundeskanzler Schröder vorgerechnet, dass es „nicht reiche“ und man doch privat für die Rente vorsorgen müsse, wenn man im Alter keine Engpässe haben will. Das Problem war aber, dass diejenigen die erwartbar eine minimale Rente haben werden während ihres Berufslebens eben nicht mit Wohlstand versorgt sind um mal eben was für später beiseite zu legen. Und jetzt kommt ein CDU-Generalsekretär und will uns erzählen, dass die Rentner einfach mehr arbeiten sollen, damit es ihnen nicht schlecht geht. Natürlich hat er als Politiker ein ganz anderes Einkommensniveau als der Arbeiter den er hier „motivieren“ will, kann also wahrscheinlich dessen Situation nicht verstehen.
Und ja, das wir ein demografisches Problem haben, Menschen immer älter werden und wir deshalb das Rentensystem reformieren müssen ist jedem klar. Zu dieser Wahrheit gehört aber auch die Aussage, dass wir zur Wahrung unseres „status quo“ (oder Wohlstandes wie es die Union zu sagen pflegt) eine Nettozuwanderung in Höhe von 400.000 Menschen pro Jahr brauchen würden, und davon sind wir meilenweit entfernt, denn dank AfD haben wir uns lieber als ausländerfeindlich positioniert denn als weltoffene Gesellschaft.
Work-Life-Balance oder nicht
Der nächste Schlag unter die Gürtellinie ist, dass Merz und Linnemann in ihrer Betrachtung den Menschen auf die Arbeit (Work) reduzieren, also auf ihre Verwertbarkeit am Arbeitsmarkt. Und dann postulieren, dass weniger Work-Life-Balance zu mehr Wohlstand führen würde. Was schlicht falsch ist, denn weniger Work-Life-Balance führt zu mehr Burnout. Sehen wir es mal rein ganz simpel:
Jedem von uns steht exakt gleich viel Zeit am Tag zur Verfügung, nämlich 24 Stunden.
- Mediziner werden jetzt darauf hinweisen, dass der Mensch um gesund zu bleiben jeden Tag 8 Stunden schlafen sollte. Bleiben also noch 16 Stunden übrig.
- Aktuell beträgt die Arbeitszeit eines Vollzeit-Arbeiters 8 Stunden, hinzu kommen gesetzlich geregelte Pausenzeiten. von mindestens 30 Minuten, also bleiben noch 7 Stunden und 30 Minuten übrig.
- In diesen 7 Stunden 30 Minuten sollen wir den ganzen Rest der zum Leben gehört unterbringen, inklusive unseres Privatvergnügens des „Weg zur Arbeit“ bei mir ist der zum Glück sehr kurz da ich ihm Home-Office arbeite, andere haben da weniger Glück. Und auch Hobbies, ehrenamtliches Engagement fallen in diese Zeit. Oft genug leisten Menschen neben dem Job auch „Care-Arbeit“ indem sie Angehörige pflegen, was sehr anstrengend sein kann, von der Politik aber nicht wertgeschätzt wird. Oder man hat Kinder die einfach Aufmerksamkeit und Zuwendung brauchen. Oh, ich erinnere mich noch gut an meine Kindheit, im Haus lebte auch eine Familie mit sogenannten Schlüsselkindern, also Kinder bei denen beide Elternteile arbeiten und die Kinder dann einen Hausschlüssel haben damit sie nach dem Ende des Schulunterrichts daheim rein können und sich selbst überlassen sind. Und ja, diese Kinder waren dann auch die, die später auf die „schiefe Bahn“ kamen, keine Ausbildung und sozialer Abstieg vorprogrammiert.
Produktivität und mehr arbeiten
Ich bin jetzt 64 Jahre alt. Und ich kann mich noch gut an die Anfänge meines Arbeitslebens erinnern, als der PC gerade so erfunden wurde und Zukunftsforscher vorhersagten, dass wir im 21. Jahrhundert im schlimmsten Fall nur noch halbtags arbeiten müssten, weil die neue Technik ja so eine große Produktivitätssteigerung bringt, dass am Ende nicht genug Arbeit für alle übrig bliebe. Und in der Realität haben wir weiterhin die 40-Stunden-Woche, und die Politik will noch längere Arbeitszeiten obwohl jeder Wirtschaftszweig gerade glaubt, mit der Einführung von „Künstlicher Intelligenz“ in seine Unternehmensprozesse Geld sparen zu können. Oder die Produktivität zu erhöhen. Wie passt das zusammen? Und nicht zu vergessen ist auch die Aussage von David Graeber, dass Millionen von Menschen in sogenannten „Bullshit-Jobs“4 arbeiten deren Sinnhaftigkeit angezweifelt werden kann. Und die letztendlich wieder zum Burnout bei den dort beschäftigten Menschen führen.
Der Schlüssel zu mehr Produktivität ist nicht mehr zu arbeiten oder das was man tut immer effizienter zu machen, sondern vor allem die Beantwortung der Frage, ob die Arbeit überhaupt getan werden sollte.
Vielleicht müssen wir tatsächlich anfangen darüber nachzudenken, ob der hochperformante Industrieroboter der Autos zusammenschweißt nicht auch Sozialabgaben zahlen müsste, so wie es früher die menschlichen Kollegen vor der Einführung der Roboter getan haben. Wir stehen vor den gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und die Union will sie mit Methoden aus der antiquierten Vergangenheit lösen, denn der 8-Stunden-Tag der jetzt in Visier genommen wurde ist eine Errungenschaft aus dem Jahr 1918.
Und hier schaue ich nur auf die gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen, wohl wissend, dass der „Elephant in the room“, nämlich der Klimawandel von der Politik weiterhin ignoriert werden wird, obwohl gerade der Klimawandel und die daraus resultierenden Unwetter-Katastrophen jede Menge Wohlstand jedes Jahr schlicht vernichten.
Am Ende ist die aktuelle Debatte aus meiner Sicht eine Scheindebatte mit der die Union Handlungsfähigkeit bei gleichzeitigem Ignorieren der tatsächlichen Probleme simuliert.
- Acht-Stunden-Tag vor dem Aus? Frankfurter Rundeschau vom 26.05.2025. ↩︎
- Bezahlte und unbezahlte Überstunden in Deutschland (Bundesamt für Statistik) ↩︎
- Linnemann will mehr Leistungsbereitschaft: „Zum Beispiel von Rentnern“ ↩︎
- David Graeber: Bullshit Jobs ↩︎