Auszeit von der Röhre

Seit einer Woche mache ich einen Selbstversuch bei dem ich bewusst und absichtlich auf den Konsum von YouTube verzichte. Wie es dazu kam und was ich nach einer Woche bereits an Veränderungen bemerke, darüber möchte ich nun berichten.

Schöne Welt der bewegten Bilder

YouTube ist schön und interessant, man findet quasi zu jedem Thema dort Videos aus aller Welt. Und ja, auch ich habe in der Vergangenheit gerne dort Video geschaut, unter anderem zu folgenden Themen: Gitarre, Bass, Klaiver, 3D-Druck, Dashcam-Videos, Selbstorganisation und natürlich auch viel aktuelle Politik. Ja, ich habe sogar selbst einen Kanal mit einem Tutorial zu Orgmode der mir über 5000 Subscriber eingebracht hat.

Dennoch hat YouTube auch klare Nachteile:

  • Der Inhalt der Startseite wird von einem Algorithmus definiert, der Dir irgendwas vorschlägt was Du anschauen sollst.
  • Obwohl YouTube „nicht lineares TV“ (man bestimmt selbst was man wann sieht) ist, so ist man doch mehr oder weniger gezwungen das Video in seiner epischen Länge anzusehen. Der gleiche Stoff als Blogartikel würde Menschen wie mich, die schnell lesen können also deutlich weniger Zeit kosten.
  • Das ist aber natürlich nicht das Ziel von YouTube, YouTube will ja möglichst viel „Eyeball-Time“ generieren, also möglichst viel Aufmerksamkeit binden.
  • Es fehlen für mich wichtige Ordnungsmerkmale. Ich würde gerne jedem Kanal den ich abonniert habe ein Tag verpassen das ihn beschreibt um dann z.B. mal via Tags gucken zu können, ob es neue Schen zum Thema des Tags gibt, also neue 3D-Druck-Vorschläge oder auch Dashcam-Videos.

Anmerkungen: An dieser Stelle muss ich vielleicht einflechten, dass ich gerade das Buch „The Attention Merchants“1 von Tim Wu lese. In diesem Buch geht es um die Händler der Aufmerksamkeit, es beginnt mit den ersten Werbeplakaten und macht dann einen Bogen über Radio- und Fernsehwerbung als diese Medien noch in den Kinderschuhen steckten. Und dann der Schwenk zu PC, Kommunikationsnetzen usw.

Die Diagnose

Soweit so gut. In den letzten Wochen und Monaten musste ich allerdings bei mir eine fatale Tendenz feststellen, immer wieder in das schwarze Loch namens YouTube gezogen zu werden. Auf Monitor 2 lief die Startseite von YouTube quasi Nonstop und sehr oft am Tag wurde einfach „aktualisiert“ um zu sehen was es neues gibt.

Besonders „interessant“ erscheinen die Videos aus den USA, wo Menschen wie Brian Tyler Cohen, Adam Mockler, Glenn Kirschner, AOC, Bernie Sanders und die Plattformen „Rebel HQ“ oder „Meidas Touch“ quasi im Stundentakt über die neuesten Schandtaten von Donald Trump berichten. Durchaus interessant, aber wenn ich mal ehrlich bin dann:

  • Ist mir klar, dass der Faschist Trump faschistische Dinge tut, das muss ich nicht im Stundentakt aus allen Quellen mit langen Videos belegt haben.
  • Kann ich von hier aus eh nichts an der Lage in den USA ändern. Das einzige was diese Videos erzeugen ist Empörung und ein Ohnmachtsgefühl, weil ich eben nichts tun kann um die Verhältnisse zu ändern.

Und wenn man mal anfängt eines dieser Videos zu schauen ist man schon drin in der Abwärtsspirale. Und noch eines, und noch eines und am Ende nur schlechte Laune.

Dann kamen immer mehr Videos bei denen mindestens die „Clickbaits“, wenn nicht sogar das ganze Video von einer KI generiert waren. Still-Pics von zwei Kontrahenten wie z.B. Jasmine Crocket und J.D. Vance und ein Sprecher erzählt eine Geschichte deren Wahrheitsgehalt nirgends belegt ist. Das ganze mit einem reißerischen Titel wie „Crockett ZERSTÖRT Vance“. Hey, wenn sie ihn wirklich zerstören würde, dann wäre er weg vom Fenster und nicht immer noch Vizepräsident.

Und dann fing es an, dass YouTube mir quasi vor jedes Video einen Werbeclip einblendete, den ich nicht überspringen kann und der quasi eine Beleidigung meiner Intelligenz darstellte. Und während ich noch mit diesen unerwünschten Unterbrechungen bei meinem Konsum der bewegten Bilder haderte traf mich die kaum noch zu leugnende Erkenntnis: Bin ich etwa YouTube süchtig?

Tatsächlich notierte ich in meinen wöchentlichen Reflexionen2 immer öfter, dass ich das Gefühl der totalen Erschöpfung (Burnout) habe und eigentlich nix geschafft kriege, einfache Dinge werden auf die lange Bank geschoben und statt den Tag mit sinnvollen Dingen zu nutzen gucke ich bekloppte Videos, die mir bestenfalls einen kurzfristigen Dopamin-Kick verpasst der aber nicht die Probleme aufwiegen kann.

Und hey, ich bin mittlerweile 64 Jahre alt, habe etliche gute Bücher zum Thema „Digital Detox“3 gelesen und immer gedacht, so was brauche ich ja nicht. Oder vielleicht doch..?

Die Kur

An diesem Punkt angelangt habe ich mich entschlossen erst einmal die Reißleine zu ziehen, also ganz bewusst die YouTube Webseite zu meiden, einfach um mich nicht wieder in diesen Strudel ziehen zu lasen, der mir am Ende nur den Tag versaut und viel Zeit verbraucht.

Das war vor 8 Tagen. Ich habe konsequent auf YouTube verzichtet und auch keine YouTube-Links geklickt die mir über irgendwelche Kanäle mitgeteilt wurden. Außerdem habe ich am Smartphone die Benachrichtigungen der YouTube-App abgeschaltet, also keine Lockrufe mehr in den Benachrichtigungen. Und dann habe ich mal beobachtet, was das für Auswirkungen hat.

  • Ich habe zum Glück keine Entzugserscheinungen, ich weiß zwar, dass vielleicht der eine oder andere Kanal was Interessantes veröffentlicht haben könnte, aber ich habe noch kein FOMO4.
  • Ich habe das Gefühl, dass ich nachts besser schlafe, trotz der momentanen hohen Temperaturen, aber ich schlafe einfach besser (zumindest so lange unser Hund Sally das zulässt).
  • Ich fühle mich selbst ausgeglichener und weniger schlecht gelaunt.
  • Das Gefühl des Burnouts macht Platz für ein Gefühl, das Leben wieder bewusst zu genießen und selbstbestimmt die Dinge zu tun die ich tun will.
  • Ich mache wieder die kleinen Dinge die mir Spaß machen, also z.b. mal wieder selbst die Gitarre in die Hand nehmen statt ein YouTube-Video übers Gitarre-Spielen zu schauen.
  • Auch kleine Basteleien, die ich sonst auf „später“ verschoben hätte habe ich diese Woche einfach gemacht.

Negative Auswirkungen? Eher keine, außer dass meine Frau die Befürchtung hat, dass wir weniger Dinge haben über die wir diskutieren können, aber ich denke, es werden sich andere Themen finden als das letzte Video zu Trumps Schandtaten.

Und wie geht es weiter?

Aktuell bin ich gewillt, diese Auszeit erst mal zu verlängern. Denn die positiven Effekte sprechen für sich und jetzt im Sommer sollte man tatsächlich besseres zu tun haben als Videos auf YouTube zu schauen.

Am Horizont taucht nun allerdings PeerTube im Fediverse auf, das für mich durchaus interessant ist, weil es dort eben keine Werbung gibt und auch wieder keinen Algorithmus der einem Vorschläge macht um die „Eyeball-Time“ zu maximieren. Natürlich gibt es auf den PeerTube-Instanzen aktuell kaum was zu sehen, aber egal. Einfach mal gucken, wie sich das dort anfühlt und dabei den Fokus auf das richten, was einen wirklich interessiert.

Ansonsten bin ich auch auch nicht abgeneigt, meine Nachrichten-Kanäle anderes zu organisieren, also z.B. abzuspringen vom „Eilmeldung“-Wahn und der Wechsel zu Medien, die vielleicht länger für die Berichterstattung brauchen, das ganze dann aber auch passend bewerten und einsortieren. Und vielleicht den Fokus abwenden von den täglichen Brennpunkten wie USA und Naher Osten und hin zu Nachrichten aus anderen Teilen der Erde. So gibt es z.B. „The Continent“5 die wöchentliche Nachrichten aus Afrika bringen, etwas was bei uns weitgehend niemand auf dem Schirm hat.

  1. Tim Wu – The Attention Merchants ↩︎
  2. Einmal in der Woche gönne ich mir eine stille Zeit in der ich auf die vergangene Woche blicke und meine Gedanken dazu notiere. ↩︎
  3. Cal Newport – Deep Work
    Cal Newport- Digital Minimalism
    Johann Hari – Stolen Focus ↩︎
  4. FOMO: Fear Of Missing Out ↩︎
  5. The Continent – Nachrichten aus Afrika ↩︎

2 Gedanken zu „Auszeit von der Röhre

  1. Was viele Menschen bei Videos immer vergessen: Man kann darin nur unfassbar schwer suchen. Inhalte in schriftlicher Form unter Zuhilfenahme von Screenshots bei Anleitungen sind viel einfacher indexier- und durchsuchbar.

    Allerdings höre ich immer wieder, dass die Menschen glauben, dass Videos einfacher konsumierbar sind. Die wollen keine Informationen, sondern jemanden, der sie an die Hand nimmt. Echt schade.

    Aber vielleicht ist dein Blogbeitrag, den diese Menschen wohl nie lesen werden, eine Inspiration für andere Menschen, es dir gleichzutun.

  2. Hallo Rainer,

    über deinen ESP Lautsprecher bei printables bin ich hier gelandet. Gefällt mir gut dein Blog, ich schau ich jetzt öfter mal vorbei. 🙂

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