Che Angela?

Also, ich muß schon sagen, die Schlagzeile in der Welt haut mich fast um: Merkels Revolutionserfahrung ist gefragt. Wie denn? Unsere Bundeskanzlerin als alte Revoluzzerin? Irgendwie ist mir die 1989 bei der Wende gar nicht aufgefallen.

Aber klar, in einem Land in dem jeder Depp zum Experten ernannt wird wenn er was sagt was der Regierung angenehm ist kann man auch mal jemandem Revolutionserfahrung attestieren der in einem Land gelebt hat in dem es eine Revolution gab. So gesehen haben jetzt 80 Millionen Ägypter auch eine ganz besondere Revolutionserfahrung zu machen.

Denn anders als damals im geteilten Deutschland will man das Volk auf der Straße sozusagen wieder nach Hause schicken mit dem Versprechen irgendwann die Demokratie einzuführen, aber gut Ding will Weile haben. Vor allem unterstellt man den Leuten in Ägypten, dass sie nicht daran denken, „nachhaltige Strukturen“ schaffen zu wollen. Da stellt sich mir wieder die Frage, wie in diesem Kontext „Nachhaltigkeit“ zu definieren ist. Ich denke nämlich schon, dass diejenigen die jetzt gegen das Regime in Ägypten aufbegehren durchaus gerne eine nachhaltige Änderung der Verhältnisse hätten, aber in eine Richtung die dem gar so demokratischen Westen wohl nicht genehm ist.

Mächtig grinsen muss ich aber wenn unsere Bundeshaargelwerbung sich beklagt, dass niemand diese Revolution in Ägypten vorausgesehen hat. Ach Herr zu Guttenberg, haben sie noch nie gehört dass man niemals alle auf Dauer verarschen kann? Die Basis des Volkes in Ägypten hat die Schnauze voll von Aufschwüngen die nie bei hnen ankommen und einem Präsidenten der in jedem Jahr seiner Amtszeit rechnerisch eine Milliarde Dollar verdient hat während der Mann am anderen Ende der Pyramide nicht weiß wie er seine Familie ernähren soll.

Ist es da tatsächlich so verwunderlich wenn das Volk aufbegehrt? Nein, ist es nicht, sind sie mal froh, dass die Deutschen sich ihre Meinung noch mehrheitlich von der Bild bilden lassen und lieber „Deutschland sucht den Superstar“ gucken statt über ihre Situation und die Probleme im Land nachzudenken, sonst hätten wir einen ähnlichen Aufstand auch bald hier.

Und was die Vorbereitung auf die Demokratie angeht, ich war 1989 in Südafrika und durfte dort den ersten demokratischen Wahlkampf miterleben der dann auch von der ANC unter Nelson Mandela beherrscht wurde. Und es war richtig lustig zu sehen, dass dem Volk alles mögliche versprochen wurde ohne sich groß Gedanken zu machen wie das auch umzusetzen wäre. Und in Südafrika war der Demokratisierungsprozess durchaus so langsam wie ihn sich der Westen nun für Ägypten wünscht.

Das äyptische Volk will eine Änderung der Verhältnisse und es hat jede demokratische Legitimation das zu entscheiden. Wenn Mubarak vom Volk nicht mehr erwünscht ist dann muss er eben gehen. Mubarak sollte sich nicht für unersetzlich halten, die Friedhöfe der Welt sind voll mit Leuten die glaubten ohne sie ginge es nicht. Es geht sogar auch mal eine Weile ohne Regierung wie wir in unserem ziviliserten Europa am Beispiel Belgien sehen, die haben seit April 2010 keine funktionierende Regierung mehr und es herrscht trotzdem nicht das blanke Chaos.

Was mich an Ägypten nachdenklich macht

Gestern konnten wir alle die Bilder der „ägyptischen Kavallerie“ sehen die auf Pferden und Kamelen in die Reihen der Demonstranten in Kairo ritten und dort wahllos auf die Leute einschlugen. Erschütternde Szenen eines Regimes, das seinen Untergang gewaltsam hinauszögern will.

An dieser Stelle frage ich mich dann, welche Motivation solche Leute haben, sich auf die Seite eines ungeliebten Diktators zu schlagen und ihre Haut im Straßenkampf zu riskieren. Wobei eigentlich nur der gewaltsame Teil dieser Aktion zu verurteilen ist, denn natürlich muss ich, wenn ich für Ägypten Demokratie einfordere auch akzeptieren, dass es Leute geben wird die den Präsidenten gut finden.

Überhaupt gab es heute Kommentare die die 1 bis 2 Millionen Demonstranten als „wenig“ bezeichneten, verglichen mit der Gesamtbevölkerung von knapp 80 Millionen. Andersrum gibt es aber die Aussage, dass Revolutionen damit beginnen, dass 1% des Volkes aufbegehrt und diese Quote haben wir in Ägypten erfüllt. Und natürlich hege ich meine Zweifel, dass die „schweigende Mehrheit“ tatsächlich für Mubarak ist. Für die Nichtteilnahme an Demonstrationen gibt es viele Gründe, angefangen von der Entfernung zum Demonstrationsort bis hin zur Angst vor Repressalien. Das ist in Ägypten nicht anders als in Deutschland, ich täte auch gerne mal in Berlin demonstrieren, aber das ist im Moment mit Familie nicht möglich, denn Kinder und Familie sind die oberste Priorität solange der Schmerz noch nicht so groß ist, dass ich eine Änderung des Status Quo erzwingen will.

Bei den Leuten die derzeit in Ägypten demonstrieren ist es aber wohl so, dass sie viele Jahre vom Regime unten gehalten wurden, mit minimalen Löhnen und ohne Perspektive irgendwann ihre Situation zu verbesern. Da fällt mir dann der Refrain von Janis Joplins „Me and Bobby McGee“ ein:

Freedom is just another word for nothing left to lose.

Die Leute auf der Straße haben nichts mehr zu verlieren außer ihrem Leben und sind wohl sogar bereit, dieses Risiko einzugehen in der Hoffnung etwas zu bewegen. Und diejenigen die vermeintlich der Regierung die Stange halten? In den Medien hieß es, die Reiter von gestern wären erzürnte Touristenführer gewesen die dank der Demonstrationen keinen Verdienst mehr haben weil die Touristen ausbleiben. Auch wenn man diese Begründung anzweifeln will erscheint sie doch gar nicht so abwegig.

Denn natürlich ist das eine beliebte Taktik von Regierungen wenn sie sich selbst aus der Schußlinie des Volkszorns bringen wollen, dann werden Grabenkämpfe zwischen Bevölkerungsgruppen geschürt. Erinnern wir uns doch mal an die Debatten im letzten Jahr:

  • Hartz-IV-Sozialschmarotzer leben in Saus und Braus und der Arbeiter muß die Rechnung zahlen.
  • Die demographische Situaton wird dazu führen, dass die Alten den Jungen sozusagen die Haare vom Kopf fressen. Und zudem blockieren sie die Arbeitsplätze die die Jugend dringend braucht.

Na, klingelt was? Natürlich gibt es Sozialmißbrauch bei Hartz-IV aber deswegen muß ich nicht Arbeitslose und Geringverdiener gegeneinander aufhetzen. Und die demographische Situation mag anders sein als vor 50 Jahren, aber das Schüren von Konflikten „Alt gegen Jung“ löst sie auch nicht.

Noch krasser ist die Situation wenn man Sündenböcke hat auf die man zeigen kann. Auch in Deutschland gibt es mittlerweile „no go“-Areas in denen man sich besser nicht blicken lässt wenn man eine andere Hautfarbe als die dort perspektivlosen Jugendlichen hat die von Neonazi-Parolen dann mit Ausländerhass aufgefüllt werden.

Der Ausweg aus der Misere wäre „Aufklärung“ und „politische Bildung“ und zwar nicht die welche die große deutsche Tageszeitung mit der Parole „Bild dir deine Meinung“ verbreitet.

Aber damit würden wir kritische Staatsbürger heranzüchten und ich fürchte diese Spezies ist auch bei uns von den Regierenden nicht gerne gesehen. Dann schon lieber den Bürger mit alternativlosen Reformen beschäftigen die, wie man in Jordanien jetzt sieht wohl eher „Show“ als „wirkliche Reformen“ waren.

Ja, was mich an Ägypten so nachdenklich macht ist die Frage, wie weit wir in Europa noch von ägyptischen Verhältnissen entfernt sind. Dazu tragen auch die Überlegungen vieler westlicher Regierungen ob sie einen Internet-Kill-Switch brauchen natürlich bei.

Gedanken zu Ägypten

Momentan passieren in Ägypten Dinge die eigentlich weitaus mehr Beachtung erfahren sollten als sie von unseren Massenmedien derzeit erhalten. Das ägyptische Volk lehnt sich gegen einen Tyrannen auf der nach 30 Jahren im Amt des Präsidenten nicht zurücktreten will sondern sich mit Gewalt an seine Macht oder das was davon noch übrig ist klammert.

Dank Internet und vor allem Al Jazeera kann man sich aber trotzdem noch ein Bild von der Lage in Ägypten machen, auch wenn das Regime dort alles mögliche daran setzt um den Informationsfluss zu zensieren. Das führte sogar dazu, dass Ägypten sozusagen offline ging um den Massen die Möglichkeit der Kommunikation über das Internet oder SMS zu nehmen.

Die Lehre die man daraus ziehen muss ist, dass die Möglichkeit der freien Kommunikation einen Machtfaktor darstellt vor dem das Establishment riesige Angst haben muss, denn sonst würden sie diese Kommunikation nicht einschränken wollen. Ägypten musste alle „Leitungen“ kappen weil sie keine „weiche Zensurinfrastruktur“ etabliert haten. Deutschland versucht seit langem, eine solche „weiche Zensurinfrastruktur“ unter dem Deckmäntelchen der Kinderpornographie-Bekämpfung zu etablieren. Und geben wir uns nicht der Illusion hin, dass in Deutschland so etwas wie das gezielte Unterbinden der Massenkommunikation nicht passieren würde wenn es hier mal heiß wird.

Denn hier sehen wir weitere Paralellen zu Ägypten. Das ägyptische Volk protestiert ja nicht weil ihnen die Wüstensonne das Gehirn verschmort hat sondern weil sie die Schnauze voll haben von einem Regime das den Aufschwung feiert der aber nie beim Volk angekommen ist, so schilderte es gerade der Reporter auf Al Jazeera. Schauen wir nach Deutschland, dann sehen wir auch hier einen Aufschwung der trotz aller Jubelei nicht wirklich zum Wohlstand für das Volk führt. So verschieden von Ägypten ist unsere Situation also nicht, lediglich das böse Zungen behaupten in Deutschland bräuchte man für die Revolution eine Bahnsteigkarte.

Interessant ist auch, dass die Volksrepublik China Nachrichten aus Ägypten aus dem Internet filtert, man will wohl vermeiden, dass das eigene Volk auf irgendwelche Ideen kommen könnte. Bei uns gibt es ja viel wichtigere Themen und so ist laut Twitter das Thema in der heutigen Talkshow am Sonntagabend bei Anne Will unser allseits beliebter Verteidigungsminister der sich über die Meuterei auf der Gorch Fock freut weil sie ihn doch vor peinlichen Fragen zur Verletzung des Briefgeheimnises bei Feldpostbriefen aus Afghanistan bewahrt.

Das ägyptische Regime (oder das was davon noch übrig ist) hat heute übrigens auch Al Jazeera die Lizenz entzogen, offensichtlich sind sie ein wenig unangenehm berührt von der wirklich umfassenden Berichterstattung die man von Al Jazeera bekommt. In Deutschland dürfte so ein Schritt nicht notwendig sein, denn zum einen haben wir ja die Massenmedien eh schon gleichgeschaltet und zum anderen hat Al Jazeera seit den islamistischen Terroranschlägen ja eh das Attribut „Terroristensender“ anhaftend. Trotzdem läuft bei mir wann immer es geht der Live-Stream von Al Jazeera, denn die bringen die Art von Journalismus die ich in Deutschland schon lange nicht mehr gesehen habe. Da wird dann auch mal genau hinterfragt, warum die protestierenden Bürger als „gewalttätiger Mob“ deklariert werden wo doch die Gewalt von der Staatsgewalt aka Polizei ausgeht. Da sollte es jedem Stuttgarter in Erinnerung an die Vorfälle vom 30.09.2010 doch ganz warm ums Herz werden.

Interessant ist auch, dass mittlerweile viele Nationen ihre Bürger aus Ägypten ausfliegen und die sogenannte „Elite“ sich ebenfalls aus dem Staub gemacht hat, in 19 Flugzeugen die Kurs auf Dubai genommen haben. Wohin werden sich wohl unsere Ackermänner verdrücken wenn es hier losgeht? Die eigentliche Elite steht in Ägypten auf der Straße und fordert Demokratie und Freiheit ein.

Hier haben Staaten wie Deutschland und die USA jetzt massive Syntaxprobleme. Mubarak war bisher der Staatspräsident und ganz ehrlich hat man sich als Deutscher kaum Gedanken zur Staatsform in Ägypten gemacht, das steht auch nicht in den Reiseprospekten drin. Und natürlich wurde Mubarak von den USA als „verlässlicher Verbündeter“ gefördert, jedes Jahr mit Milliarden fürs Militär und die Waffen und Kugeln mit denen momentan auf Demonstranten geschossen wird könnten auch aus deutscher Produktion stammen. Wir werden in den nächsten Tagen sehen, mit welchen Wörtern berichtet werden wird. Die Sprache bietet hier ja schöne Nuancen, man kann ja entweder „Regierung“ (auf unserer Seite) oder „Regime“ (die Bösen) sagen oder eben „Rebellen“ (die sich gegen die Bösen auflehnen) oder „Aufständische“ (die gegen die Guten kämpfen).

Die einzige Sondersendung im Deutschen Fernsehen die ich bislang zu Ägypten gesehen habe brachte gestern abend dann auch eher einen nichtssagenden Vizekanzler und Außenminister und zimmerte Nebenbei an einer Gefahr der „Moslembruderschaft“ rum die natärlich beim präkonditionierten guten Bildzeitungsleser dann gleich wieder die Assoziation mit islamistischem Terror hervorruft.

Ich persönlich wünsche dem ägyptischen Volk dass sie das bekommen werden was sie derzeit vehement und mit hohem Blutzoll einfordern. Und wer auch immer in Zukunft in Ägypten regieren wird muss von uns akzeptiert werden solange er von seinem eigenen Volk akzeptiert wird. Mubarak hat fertig und muss Platz machen für einen Neuanfang, je eher umso besser.